die Schnittmenge: Orientierung


Wahrnehmung ist ein kreativer Aneignungsprozess (Rémy Zaugg). Durch Wahrnehmungsarbeit, die Aktion beim Betrachter wird die Grenze zwischen Subjekt (Betrachter) und Objekt fließend. “Wahrnehmung verläuft - im Unterschied zur bloßen Informationsübertragung - nicht als einseitiger [...] Rezeptionsprozeß; durch Wahrnehmung wird das Wahrgenommene wie auch der Wahrnehmen-de gleichermaßen verändert.” Francis Ponge und Maurice Blanchot entwickelten auf derselben Basis ein Wahrnehmungsmodell “innerhalb [...] das Kraft der Wahrnehmung (und in ihr) sich aufbauende Werk zu einem Kreuzungspunkt (einem ‘Knoten’) wird, an dem das Subjekt der Wahrnehmung mit dem Objekt der Wahrnehmung einswird.” (aus: Felix Philipp Ingold, Das sprechende Bild - Bildwahrnehmung und Bildkonstitution bei Rémy Zaugg)

“Keine Sinnesarbeit im Stillstand” (Viktor von Weizsäcker: Verschränkung von Wahrnehmung und Bewegung), also auch keine Wahrnehmung losgelöst von der zeitlichen Dimension.

Außerhalb der Erfahrung begrenzter Räume gibt es für den Menschen kein ‘Raumbild’ - Unendlich-keit ist nicht erfahrbar und bietet keine Orientierung (vgl. Hannes Böhringer, Cage und Filliou mit Schopenhauer im gleichen Zugabteil). Innerhalb der architektonisch definierten Grenzen des Raums ist der menschliche Körper selber ein Volumen. “Er sieht sich oder fühlt sich in ein Verhältnis zu dem ihn umgebenden Raum gesetzt [...] und verfügt damit über Vermessungs-Koordinaten für die Raumerkundung oder -wiedererkennung.” “‘Jede Architektur wirkt als ein potentieller Bewegungsanreiz, entweder direkt oder in der Vorstellung.’ (Bloome/Moore 1980) Die Orientierung geschieht daher in mimetischen Akten des Nachvollzugs der Bewegungsvorschläge, die ein Raum macht.” Das die Baugeschichte Mitteleuropas beherrschende orthogonale Raster wirkt dabei als eine Art Kulturnorm. Zur Orientierung im Raum tragen nicht tatsächlich Spür- und Sehbares allein bei, sondern auch Erinnertes und Vorgestelltes (vgl. Gibson: ökonomie des Sehens). Gleichzeitig wird wahrgenommen, was sozial geschieht. “Der orientierende Akt reproduziert ein Doppelbild im Blick auf die Menschen im Raum und im Blick des Raumes auf die Menschen. In dieser Figuration bilden sich wiedererkennbare Systeme gesellschaftlicher Handlungen und Bedeutungen aus. [...] Die Orientierung erfolgt nach archaischen Gesichts- (genauer Sinnes-) Punkten der Sicherung und Prüfung, zugleich nach gegenwärtigen Kriterien der ästhetischen Entschlüsselung des sozialen Feldes vor Augen. Räumliche und gesellschaftliche Orientierung fallen zusammen. Die alten Instinkte sind wach. [...] Höflichkeitsformeln und glatte, konventionelle Gesten verdecken das Drama der Orientierung, machen es unauffällig in seiner Direktheit.” (Gert Selle; Das Drama der Orientierung - Positionen des Körpers, aus: Die eigenen vier Wände)