Wahrnehmungssystem


Bereits Goethe bezog sich zwar in seiner Farbenlehre explizit auf eine ganzheitliche Wirkung / Wahr-nehmung einzelner Farben (“ihre Wirkung ist ihre Wirklichkeit selbst: Die Wirklichkeit der Farben ist ihre Präsenz im Sinn des Auges.”), allerdings prägte Newton, für den die physikalischen Eigenschaften des Lichts als Urhebers der Farben (und damit der Wahrnehmung) im Vordergrund standen die folgende Erforschung der Wahrnehmung auf naturwissenschaftliche Weise. Sie führte zur Trennung in äußere Reize und innere Empfindungen (vgl. Ursache und Wirkung). Die Sinnesorgane galten damals als die einzige Quelle unserer Kenntnis von der Außenwelt; mit John Lockes Doktrin von der ‘tabula rasa’ - der völligen Leere des Geistes bei der Geburt (1690) - und Johannes Müllers Doktrin von den ‘spezifischen Sinnesqualitäten der Nerven’, (1826) - Sinnesorgane waren danach Behälter, in denen Erfahrung bewußt wird - als den grundlegenden Theorien.

Erst in neuerer Zeit kommt Goethes Ansatz zu späten Ehren. Für Gibson z.B. sind die Sinne Systeme der Wahrnehmung, vorausgesetzt sie arbeiten - vielfach verflochten - um Information zu gewinnen. Er unterscheidet zwischen Information und Sinnesqualitäten. Sinnesorgane sind dabei die Quelle unseres Wissens (Information), Nerven und Rezeptoren Quelle für bewußtwerdende Sinnesempfindungen (Qualität). Empfindung und Information müssen nicht zwangsläufig gekoppelt sein. Rezeptoren können ohne Informationvermittlung gereizt werden, Information kann ohne die Existenz von Empfindungen entstehen. Folglich muß zum Studium der Wahrnehmungen auch nicht erst ein Katalog von Empfindungsqualitäten vorliegen, der vollständig sowieso nicht erstellt werden kann. Aristoteles’ Einteilung in fünf Sinne erfaßte z.B. weder propriozeptive Sinneserfahrung, noch, im Gegensatz zu passiver Reizung, aktive Sinne. Redundanz der Sinnempfindungen wird ebensowenig erklärbar, wie die sich ständig ändernden Verflechtungen einzelner Wahrnehmungssysteme. (vgl. Hornbostel: ‘es macht wenig aus, mit welchem Sinnesorgan ich feststelle, daß ich im Dunkeln in einen Schweinestall geraten bin’ (1927). Ihm schwebte etwas vor wie die ‘Einheit der Sinne’.” (in: James J. Gibson Die Systeme der Wahrnehmung aus: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung Bern, 1982, S.83). Gibson selbst spricht von der “allgemeinen orientierenden Aktivität des Gesamtkörpers” (vgl. dazu Gernot Böhme, Synästhesien; Frankfurt/M. 1995).

Heinz Werner formulierte die wohl fortschrittlichste Position zur Synästhetik. “Man kann interessanterweise [...] Schichten beim Kulturmenschen bloßlegen, die genetisch vor den Wahrnehmungen stehen [Kant?] [...]. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht als sachliche Wahrnehmungen, sondern als ausdrucksmäßige Empfindungen, welche das ganze Ich erfüllen, zum Bewußtsein.” (H.Werner, Intermodale Qualitäten (Synästhesien), 9.Kap., in: Handbuch der Psychologie, I.Bd., 1.Halbband, Göttingen 1966) Mit den tieferen Schichten sind die “mehr oder weniger spürbaren Zustände des eigenen Körpers” gemeint, die für Werner allerdings keine eigenständigen Wahrnehmungen sind. Zur eigentlichen Wahrnehmung erklärt dagegen Schmitz (H. Schmitz, Subjektivität, Bonn 1968 und System der Philosophie, Bonn 1978) die Erfahrung synästhetischer Charaktere. “Denn Wahrnehmung sei im Grunde leibliche Kommunikation.” Es werden nicht erst einzelne Sinnesdaten zu Einheiten synthetisiert, sondern gleich komplette Einheiten, Situationen, wahrgenommen (vgl.: ‘Feature extractors’ (Isoliermechanismen), die bei Tieren in einer Art Datenvergleich Erscheinungen mit gespeicherten Modelle vergleichen). Nachdem der Mensch mit Sprache und Kunst einfache Formen selbst in einen Code umformen und erinnern kann, ist unsicher, ob er über solche Mechanismen verfügt (aus: Ernst H. Gombrich, Die ökonomie des Sehens, in: Ornament und Kunst Stuttgart, 1982, vgl. von Randow: Der versteckte Teddybär in: Zeitmagazin 10/95)